Freitag, Oktober 10, 2025
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Wenn der Rechtsstaat schweigt – Verwaltungsgericht Göttingen prüft Transparenzpflicht der Polizei Hameln

Blaulicht, mehr als einhundert Einsatzkräfte – ein Großaufgebot der Polizei durchsucht im Oktober 2024 mehrere Objekte in Hameln. Stunden später steht die Staatsanwältin selbst vor den Akten und schreibt den Satz, der alles relativiert: Der Tatverdacht hat sich nicht bestätigt.

Was bleibt, ist eine Frage, die weit über diesen Tag hinausreicht: Wie konnte ein derart massiver Eingriff stattfinden – und warum verweigert die Polizei bis heute jede konkrete Auskunft über die Hintergründe? Sind die der Redaktion vorliegenden Anhaltspunkte, wonach das Verfahren bewusst manipuliert worden sein soll, etwa zutreffend – oder weshalb werden kritische Informationen weiterhin zurückgehalten?

Klarheit könnte die Beantwortung der Fragen bringen, die diese Zeitung der Polizei am 6. September übermittelt hat. Doch die Polizei zeigt sich seitdem sehr bemüht zu verhindern, dass die Öffentlichkeit erfährt, was in diesem Verfahren wirklich geschehen ist.

„Als Ergebnis des Gutachtens ist festzuhalten, dass die dem Ermittlungsverfahren […] zugrundeliegende Verdachtsschöpfung infolge der dubiosen Umstände schon für sich genommen näherer Abklärung bedurft hätte, für die sich mehrere Ansätze aufdrängten.“

Prof. Dr. Volker Erb

Zunächst verweigert die Pressestelle der Polizei Hameln, dann die Pressestelle der Polizeidirektion Göttingen die Beantwortung unseres Auskunftsersuchens fast vollständig.

Auf unseren nach Fristablauf und aufgrund der Auskunftsverweigerung eingereichten Eilantrag beim Verwaltungsgericht Göttingen führt die Polizeidirektion Göttingen auf 22 Seiten – mit auffallendem Engagement – aus, weshalb die Öffentlichkeit keinesfalls erfahren sollte, wieso in dem gegenständlichen Strafverfahren wesentliche entlastende Beweise verschwunden sind, wieso sachkundige, erfahrene Beamte ausgeschlossen worden, wieso bestimmte Absprachen nicht dokumentiert worden sind – und welchen Einfluss bestimmte Beamte gegenüber der Staatsanwaltschaft geltend gemacht haben, um hier, einem Rechtsgutachten nach zu urteilen entgegen aller rechtsstaatlichen Mindeststandards, einen Durchsuchungsbeschluss zu erreichen.

Vom Großeinsatz zur Grundsatzfrage

Ein knappes Jahr nach dem spektakulären Einsatz ist nicht mehr der Tatvorwurf das Thema, sondern die fehlende Aufklärung. Im Februar 2025 wurde das Verfahren eingestellt, doch viele Spuren der Ermittlungsarbeit blieben unklar: In den Akten fehlen zahlreiche Kontrollberichte, die nachweislich angefertigt wurden; erfahrene Ermittler wurden nicht einbezogen; interne Kommunikation wurde nicht dokumentiert. Elementare Mindeststandards eines Ermittlungsverfahrens seien nicht eingehalten worden, lässt sich dem Tenor des Gutachtens entnehmen.

„Selbst wenn man den Anfangsverdacht als solchen für ausreichend begründet erachtet, hätte es der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geboten, die entsprechenden alternativen Maßnahmen im Hinblick darauf, dass sie ersichtlich in der Lage waren, den Verdacht zu zerstreuen, vorrangig vor den grundrechtsintensiven Durchsuchungsmaßnahmen auszuführen.“

Prof. Dr. Volker Erb

Diese Lücken sollen nun vor Gericht beleuchtet werden. Das Verwaltungsgericht Göttingen entscheidet möglicherweise noch in dieser Woche über den Eilantrag dieser Zeitung. Der Verlag will von der Polizeiinspektion Hameln-Pyrmont/Holzminden bzw. der Polizeidirektion Göttingen Antworten auf konkrete Fragen – Antworten, die bisher unter Hinweis auf „interne Abläufe“ verweigert wurden. Es geht um Entscheidungswege, Aktenführung, Kommunikation mit der Staatsanwaltschaft – und um die Grundsatzfrage, wie transparent Sicherheitsbehörden sein müssen, wenn ein Einsatz aus dem Ruder läuft.

Ein Streit um Wahrheit und Verantwortung

Die Polizei verweist auf Geheimhaltungspflichten und betont, die Anfrage diene weniger journalistischer Aufklärung als privater Aufarbeitung. Der Verlag hält dagegen: Dossier Hameln ist ein journalistisch-redaktionelles Online-Medium, das regelmäßig über politische und behördliche Vorgänge berichtet. „Wir verlangen keine Meinungen, sondern Fakten: Wer traf welche Entscheidungen, wann, auf welcher Grundlage?“, heißt es aus der Redaktion. Nach § 5 Medienstaatsvertrag sind Behörden zur Auskunft verpflichtet, wenn öffentliche Interessen berührt sind – und ein solcher Fall liegt hier zweifellos vor:

In dem Strafverfahren ging es um vermeintliche Zwangsprostitution unter anderem Minderjähriger. Und ein bedeutendes Dilemma bei der Frage der Glaubhaftigkeit es Tatvorwurfs scheint hierbei schlichtweg nicht auflösbar zu sein:

Falls der Tatvorwurf als glaubhaft eingestuft wurde: Wieso haben Polizei und Staatsanwaltschaft trotz glaubhaften Tatvorwurfs die vermeintlichen Opfer für 110 Tage hilflos ihrem vermeintlichen Schicksal überlassen? Wieso wurden keinerlei Maßnahmen zum Schutz der vermeintlichen Opfer vor mutmaßlich hundertfacher Erleidung sexueller Gewalt ergriffen? Welchem Martyrium haben sie die vermeintlichen Opfer sehenden Auges für 110 lange Tage überlassen?

Falls der Tatvorwurf durch Polizei und Staatsanwaltschaft jedoch als nicht glaubhaft eingestuft wurde: Wieso erfolgte dann auf dieser Grundlage eine Durchsuchung mit über 100 Beamten?

Ein Widerspruch, der – aus Sicht der Redaktion – nicht auflösbar ist. Er lässt nur zwei Schlüsse zu: Ein äußerst schwerwiegendes Maß an behördlichem Versagen – oder eine gezielte Einflussnahme auf das Verfahren, um eine Durchsuchung zu ermöglichen, die nach dem vorliegenden Rechtsgutachten erhebliche rechtliche Bedenken aufwirft. Der Redaktion liegen ergänzende Informationen vor, die diese Einschätzung stützen.

„Die […] erfolgte Durchsuchung muss insofern als rechts- und im Hinblick auf Art. 13 GG verfassungswidrig bezeichnet werden.“

Prof. Dr. Volker Erb

In beiden Fällen – Behördenversagen oder Verfahrensbeeinflussung – stellt sich die zentrale Frage nach Verantwortlichkeit und Aufklärung. Genau darum geht es seit dem 17. September im Eilantrag dieser Zeitung vor dem Verwaltungsgericht Göttingen.

Ein Einsatz, der Fragen hinterließ

Die damalige Durchsuchung war außergewöhnlich, in Hameln sogar beispiellos: über hundert Beamtinnen und Beamte, zahlreiche Beschlagnahmen. Schon am Tag danach erklärte die Staatsanwaltschaft, der Verdacht habe sich nicht erhärtet – ein Satz, der im Rechtsstaat schwerer wiegt als jedes Blaulicht. Denn wer mit solcher Wucht in die Privatsphäre eingreift, muss auch erklären können, warum.

Ein Großaufgebot: Über 100 maskierte Beamte waren bei der Hausdurchsuchung eingesetzt

Der Strafrechtsprofessor Dr. Volker Erb von der Universität Mainz, als einer der Herausgeber des Löwe-Rosenberg Kommentars zur Strafprozessordnung einer der führenden deutschen Wissenschafter zum Straf- und Strafprozessrecht (Veröffentlichungen, Auszug), bezeichnet die Maßnahme nach Auswertung der über 350 Seiten langen Ermittlungsakte in einem detaillierten Gutachten zusammenfassend nicht etwa als „fragwürdig“ oder „bedenklich“, sondern explizit als „rechts- und verfassungswidrig“! Ein bemerkenswertes Urteil.

In seinem Gutachten dokumentiert Prof. Erb gravierende Verstöße der Polizei Hameln gegen § 160 Abs. 2 StPO, der die Pflicht zur vollständigen Aktenführung regelt – und zwar in allen Verfahrensstufen. Auch die Staatsanwaltschaft Hannover steht in der Kritik: Wieso wurde die einzige Belastungs-„Zeugin“ nicht vernommen? Zwischen der Einleitung des Ermittlungsverfahrens und der späteren Hausdurchsuchung lagen über drei Monate. Prof. Erb dokumentiert, dass mehrere alternative Ansätze „ersichtlich in der Lage waren, den Verdacht zu zerstreuen“.

Ein weiterer Aspekt, den Prof. Erb dokumentiert: Die Kosten des Ermittlungsverfahrens und des exorbitanten Durchsuchungseinsatzes für den Steuerzahler, sechsstellig sollen sie sein: Sie wären dem Steuerzahler „bei rechtmäßigem Vorgehen vollständig erspart geblieben.“ Die Öffentlichkeit hat ein Recht zu erfahren, wie es zu einer derartigen Verschwendung von Steuermitteln kommen konnte, und rechtsstaatliche Prinzipien machen es erforderlich, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

„Insofern handelt es sich um ein erschreckendes Beispiel für die […] Oberflächlichkeit des durch den Richtervorbehalt nach 105 Abs. 1 Satz l, 162 StPO vorgesehenen präventiven Rechtsschutzes (und darüber hinaus auch des nachträglichen Rechtsschutzes im Beschwerdeverfahren […]“

Prof. Dr. Volker Erb

Nicht zuletzt erfährt die Rolle des Amtsgerichts Hannover als Ermittlungsgericht in dem Rechtsgutachten ein absolut vernichtendes Urteil: Prof. Erb sieht in dem Verhalten des Amtsgerichts Hannover im vorliegenden Verfahren „ein erschreckendes Beispiel für die Oberflächlichkeit des durch den Richtervorbehalt […] vorgesehenen präventiven Rechtsschutzes“. Eine ungewöhnlich deutliche Einschätzung aus der Feder eines der profiliertesten Strafrechtswissenschaftler Deutschlands, der selbst jahrelang als Staatsanwalt einer Schwerpunktabteilung für Wirtschaftsstrafsachen tätig war.

Was auf dem Spiel steht

Das Verfahren in Göttingen ist kein lokales Randthema, sondern ein Lackmustest für die Demokratie. Es geht um die Frage, ob der Staat bereit ist, seine eigenen Fehler transparent zu machen. Ein funktionierender Rechtsstaat definiert sich nicht durch Unfehlbarkeit, sondern durch seine Fähigkeit zur Selbstkorrektur.

Wo Behörden sich der Nachprüfung entziehen, verliert die Öffentlichkeit das Vertrauen – und Vertrauen ist die Währung, auf der Demokratie basiert. Die Presse erfüllt dabei ihre verfassungsrechtlich garantierte Kontrollfunktion. Sie fragt, wenn andere schweigen, und sie dokumentiert, wo Akten fehlen. Der Streit vor Gericht ist daher mehr als eine juristische Auseinandersetzung: Er ist ein Prüfstein für den Umgang mit Macht und Verantwortung.

Die Sicht der Polizei

Die Polizeidirektion Göttingen weist den Vorwurf der Intransparenz zurück. Wörtlich teilt die Polizeidirektion Göttingen über ihre Pressestelle mit: „Eine unsachgemäße Aktenführung ist nicht ersichtlich.“ Man habe rechtmäßig gehandelt, interne Abläufe seien nicht presseöffentlich, und viele Fragen dieser Zeitung beträfen polizeitaktische Bewertungen. Die Ermittlungen seien im Auftrag der Staatsanwaltschaft erfolgt, die Aufklärung sei Aufgabe der Justiz.

Doch diese Argumentation überzeugt nicht jeden: Kritiker verweisen darauf, dass gerade in abgeschlossenen Verfahren keine Gefahr der nicht sachgemäßen Durchführung eines schwebenden Verfahrens mehr besteht, da das Verfahren ja bereits abgeschlossen ist. Es gibt keinen Ermittlungszweck mehr, der gefährdet werden könnte. Diese Gefahr müsste jedoch vorliegen, um hieraus ein Recht zur Verweigerung der Auskunft gemäß §4 Abs. 2 Nr. 1 des Niedersächsischen Pressegesetztes ableiten zu können.

Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit

Das Verwaltungsgericht Göttingen muss nun abwägen: Wie weit reicht der Schutz interner Kommunikation, insbesondere im Falle schwerwiegender Verfahrensmängel – und ab wann wird Schweigen zur Pflichtverletzung? Die Entscheidung wird Signalwirkung haben. Sie kann festschreiben, dass Pressefreiheit auch in unliebsamen Fällen gilt und die Öffentlichkeit Anspruch auf Transparenz hat. Oder sie kann die Tür schließen, mit dem Risiko, dass der Begriff der „internen Abläufe“ zu einem möglicherweise dauerhaften Schutzschild für staatliches Fehlverhalten wird.

„Transparenz ist keine Bedrohung“

Die Redaktion von Dossier Hameln sieht sich nicht als Gegnerin der Polizei, sondern als Teil einer gemeinsamen demokratischen Verantwortung. „Transparenz ist keine Bedrohung, sie ist ein Versprechen – an die Bürger, dass ihr Staat sich erklären kann“, heißt es. Die Aufklärung der Vorgänge sei kein Angriff auf Sicherheitsbehörden, sondern ein notwendiger Schritt zur Wiederherstellung von Vertrauen.

Eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts wird möglicherweise noch in dieser Woche getroffen. Unabhängig vom Ausgang will die Redaktion weiter berichten – nüchtern, dokumentiert und unbeirrbar mit dem Ziel, dass das Licht der Öffentlichkeit auch dort scheint, wo Akten geschlossen wurden.

Anm. d. Red.: Dieser Beitrag vom 6. Oktober 2025 wurde am 10. Oktober 2025 um 05:12 Uhr überarbeitet und erneut veröffentlicht. Dabei wurden Formulierungen präzisiert, Argumentationsstränge erweitert und zusätzliche Aspekte aufgenommen, um den Sachverhalt klarer und lesefreundlicher darzustellen. Die Grundhaltung und Kernaussage des ursprünglichen Artikels bleiben unverändert. Ziel der Überarbeitung war eine vertiefte, stilistisch verfeinerte und inhaltlich ausgewogene Darstellung im Sinne einer verantwortungsvollen und transparenten Berichterstattung.

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